Goethes Besuch in Ilfeld


Johann Wolfgang von Goethe lebte vom August 1749 bis März 1832. In seiner Autobiographie am Ende seines Lebens beschrieb er seine Harzreise von Weimar ausgehend über Sondershausen zum Brocken, wo er durch den Ort Ilfeld und umliegende Güter reiste. Vom 30. November 1777 bis 01. Dezember 1777 übernachtete er in dem Gasthof "Zur goldenen Krone". In seinem Buch Faust I. verarbeitete er seine Brockenreise und berichtete vom Hexentanzplatz in der Walpurgisnacht. In seinem Auszug der "Campagne in Frankreich" beschrieb er folgendes:      
Die erste Nacht verbringt der Reisende in Sondershausen. Der Schlaf in einem fremden Bett, die Nachtgeräusche einer unbekannten Stadt, die Stimmen nie gesehener Menschen im Schnee gedämpft, das Aufwachen morgens, die Höflichkeit, die, gottlob, nicht einem Legationsrat, sondern dem Maler Weber gilt – alles das erfrischt ihn wie die klare Winterluft. Am Mittag des nächsten reitet er in die alte Reichsstadt Nordhausen ein, isst in einem Gasthaus und trabt nach Tische gleich weiter, wie sehr es auch verlocken mag, in den hügeligen, alten Strassen zu schauen und vielleicht auch zu zeichnen, denn Blätter dafür hat er mitgenommen. Wohin er in solchem Schnee wolle, fragt man ihn. Nach Ilfeld. Man schüttelt den Kopf, denn die Wege im Winter sind weiß Gott nicht gut – er aber reitet fort und lacht über die Bedenken und die sanften weißen Hügel erhöhen sich nach einigen Stunden zu reglosen Waldbergen, bedeckt mit einer undurchdringlichen Haut von Schnee.

Er kommt sich wie verloren vor. Was er suchte, die Einsamkeit: hier lebt sie in jedem Winterlaut, und jeder Ton macht sie noch voller – das Aufschwirren eines Vogels, das Knacken der Äste, wenn ein Reh über die dünne und vom Schnee beinahe verwischte Spur des Weges schwebt, der Atem seines Pferdes, sein eigener Atem, wenn er für einen Augenblick verweilt – und er spürt, wie ihm salzige Tropfen ins Gesicht rinnen. Die Dämmerung erhebt sich wie ein dunkler, geruchloser Rauch eines Feuers, das in den Waldgründen brennt, und der Reiter muss schafäugig sich auf dem versinkenden Weg weitermühen.Schließlich, um das Ziel zu erreichen, nach Ilfeld zu kommen, muss er sich in einem der Orte einen Boten geben lassen, der den Weg kennt und dem Fremden, der wohl etwas überspannt ist, mit der Laterne den Weg erhellt. Wie phantastisch das ist. Ihm ist, er sei durch Monate, nicht durch zwei Tage nur, von Weimar getrennt, und die Laterne, von der Hand des Knechtes gehalten, auf und nieder sinkt wie ein einziger Stern am undurchdringlichen, windigen Himmel, kommt es Goethe vor, er sei auf der Reise in einem völlig fremden Land: wer weiß, wo dieses Reiten enden wird. Mit dem Traum freilich ist’s nicht getan, er muss die Zügel fest und wachsam halten und den Blick in die Nacht stoßen; ringsum ruht wie verschlossene Mauern der Bergwald.Endlich, spät in der Nacht, kommen sie an Häusern vorbei. Der Bote sagt, das sei Ilfeld. Er empfehle dem jungen Herrn den Gasthof „Zur goldenen Krone“, dorthin werde er ihn bringen. Goethe steigt vom Pferd, dass von der Anstrengung des nächtlichen Weges schweißig glänzte, und dem Reiter tränen die Augen, die lange in der Nacht verweilten.

Gut sieht der Gasthof aus, die Fenster glänzen, Stimmen schallen heraus, im Hofe schwirrt ein buntes Treiben von Knechten, ein Fest scheint gefeiert zu werden. Gott sei Dank, dass er sich hier ausstrecken kann. Indes der Wirt, vom Führer herausgerufen, muss ihm erklären, dass in seinem Hause, kein Bett und kein Raum mehr frei sei; er bedaure unendlich: „die Kommisarien der höchsten Höfe seien schon lange hier beschäftigt, wichtige Entscheidungen zu treffen und verschiedene Interessen zu vereinbaren, und da dies nun glücklich vollendet sei, gäben sie heute Abend einen allgemeinen Schmaus.“Nun, der Reisende aus Weimar – der Bote hat dem Wirt bedeutet, der Fremde werde im Zahlen nicht zaghaft sein – wird noch aufgenommen. Immer wird er sich lächelnd dieser Nacht in Ilfeld erinnern. Der Wirt räumt, da wirklich kein Bett mehr frei sei, dem jungen Herrn einen Bretterverschlag in der Wirtsstube ein; dort nämlich, im einfachsten Raum des Hauses, schläft der Wirt selber, und wird ihm auch das Ehebett überlassen. Überdies sei er wohl doch so müde, dass ihn der Lärm des Festes nicht allzu sehr stören werde.

Gut, der Reisende ist damit einverstanden, und mit tränenden, des Lichts ungewohnten Augen und wie benommen von dem Eintritt in den warmen Raum folgt er dem Wirt durch das glänzend helle Zimmer, in dem er flüchtig eine reichbesetzte Tafel gewahrt, in den Verschlag.Ein paar Männer sehen den schnee- und reifüberschütteten Fremden flüchtig an, er denkt, ob nicht zufällig ihn einer erkennen wird, aber das ist kaum anzunehmen, er steckt tief in der winterlichen Hülle, und lächelnd antwortet er einem Mann mit weinrotem Gesicht, der sein Glas hebt und ihm zuruft: „Zum Wohle, junger Mann!“Das Pferd ist untergebracht, der Bote entlohnt, der Einsame erfrischt sich, isst und trinkt für sich, nach Gespräch ist ihm nicht zumut. Dabei hör er den Lärm des Festes auf und nieder schwellen, die Gläser klingen aneinander, jetzt spricht eine einzelne Stimme, und es wird höflich still, aber ein paar Gäste scheinen darauf nicht zu achten, sie lachten und trinken einander zu. Der hinter dem hölzernen Zaun Rastende hört aber ist es ruhig, die redegewohnte Stimme erhebt sich, jedes Wort kann er hören, und plötzlich kommt ihm alles so eigen vor:
Er allein und nur durch eine dünne Bretterwand getrennt von den trankseligen, glänzenden Leben. Die Stimmen vereinigen sich nach der Rede zu einem Chor des Beifalls, und nun herrscht ein verwirrendes Durcheinander von Worten, Gelächter und heftigen Rufen nach den Dienern.Das Licht schimmert durch die Ritzen des Verschlages; auf einmal bemerkt Goethe eine Astlücke, er tritt hin und kann, ohne dass ihn jemand zu gewahren vermag, im Saal alles sehen.

Vielleicht steht der Wirt selber manchmal an diesem Loch und beobachtet seine Gäste. Jetzt aber sieht der Reisende von dem niemand weiß, dass er ein Legationsrat aus Weimar ist, auf die Amtsgenossen, und der Anblick dieses turbulenten Lebens ist über alle Maßen ergötzlich und seltsam. Es könnte sein, dass Gott manchmal die Welt so sieht und den Kopf schüttelt über dieses Treiben. Das Fest ist in vollem Gang. Die Knechte und Mägde schleppen immer aufs neue Bier und Wein herbei, damit der Erfolg des „glücklich geendigten, beschwerlichen Geschäftes“ auch recht gefeiert werde. Der einsame Betrachter sieht die lange Tafel, auf der die Kerzen unruhig schimmern. Die Schatten schwanken riesengroß an den Wänden und wiederholen auf gespenstische Art und lautlos die Festversammlung. Der Zuschauer denkt plötzlich an die Hochzeit von Kana – so saß der Auserwählte inmitten des Tumultes, in dem indessen die Rangordnung nicht außer acht gelassen wird: „Vorsitzende, Räte, andere Teilnehmende, und dann immer so weiter, Sekretarien, Schreiber und Gehilfen“.Es ist die Welt, die er vor sich sieht – die ganze Welt und die Welt von Weimar auch. Dahinein ist er geraten und einer der Obersten an der Tafel des Lebens geworden, Freund des Fürsten und hoher Beamter. Wenn er jetzt vorträte und würde einem Diener sagen, er möge dem Herrn Kommissar an der Spitze der Tafel mitteilen, der Geheime Legationsrat Goethe aus Weimar möchte ihn begrüßen, so spränge der hohe Herr auf, und Stille würde eintreten, durch die er, ein Herr unter Dienern, zum besten Platz geleitet würde. Wenn er aber sagte: ein Dichter möchte teilnehmen an ihrer Freude – vielleicht würden sie ihn dort unten hinsetzen zu den Sekretären und Gehilfen, und dieser Platz beim Volke, wäre er so schlimm?

„Da sind doch alle Tugenden beysammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, grader Sinn, Treue, Freude und das leidlichste Gute, Harmoligkeit, Dulden – Dulden –Ausharren … „ Aber er will nicht vortreten, will unbekannt bleiben, lieber nur Weber, ein Maler heißen dem, der ihn fragen sollte. Lieber will er dieses ihm unversehens erschienene Abbild der Welt betrachten, will sehen, wie einer der Bedienten ein Stück Braten heimlich unter einen Tisch schiebt, der nicht weit von dem Verschlag steht, wie einer der armseligen Schreiber ein Glas nach dem anderen von dem purpurn schimmernden Wein hinuntergießt, um diesen niemals wiederkehrenden Abend ganz und gar zu genießen. Er sieht, wie allmählich eine „Gleichheit aller Teilnehmenden“ eintritt, er hört die Witze und Sticheleien und sieht die Gesichter aufzucken und sich röten. Ist es seine Müdigkeit, die ihm diesen Anblick der Fröhlichkeit langsam verwandelt, so dass etwas Gespenstisches in diesen Feierabend kommt und die Gesichter zu Gesichter von Geistern in einer Berghöhle werden? Steht einer, der Teufel womöglich, hinter ihm und zeigt mit spöttischem Lachen auf dieses Treiben, dem nun immer schneller ein Ton von Trunkenheit sich zufügt: das ist die Welt – das ist auch dein Weimar?Aber dann dringt die Flut der Müdigkeit immer tiefer in sein Leben ein, der junge Reisende sinkt in die wundervolle reine Frische des Bettes wie in kühlen, tiefen Schnee. Er lauscht, den Kopf auf den verschränkten Armen, dem Festwirbel. Der scheint anzuschwellen, will die Bretterwand durchdringen, ihn fortheben, wie ein Ozean von Stimmen strömt es heran, er hört das brausende Lachen als Antwort auf eine lustige Ansprache, da sinkt alles schnell fort, wunderbar fällt er in den Schnee der Kissen – er will noch an vieles denken – sein ganzes Leben möchte er , so liegend, überdenken – er schläft ein, wie eine Woge rauscht über ihm das Fest zusammen. Ganz fern hört er noch singen.

Sind es die Jagdgenossen, die in der Hütte feiern in der Winternacht! Ich hörte der Wölfe Hundegeheul / Ich hörte der Eulen Geschrei … Nein, die Festversammlung ist es; sie ist beim singen angelangt … Und dann, als er in der Nacht für einen Augenblick aufwacht, hört er das klingeln von Schlitten draußen und drinnen das Lallen von ein paar Stimmen, die das Fest noch in den Morgen hinüberziehen möchten, und ihrer Trunkenheit entkleidet das Fest und stürzt mit ihnen zu Glas und umgeworfener Kerze auf den Boden.Aber das Licht des Morgens kommt rein und unzerstörbar über die Winterberge, und als der Knecht, in den Verschlag getreten, den Schlafenden weckt, da ist er wohl ausgeruht, und er fragt, ob es von ihm geträumt worden sei, dass man gegen Morgen hier noch gesungen habe. Ja, so lange dauerte das Fest – aber er habe tief und am Grunde der Nacht geschlafen. Nun, ohne Verzug, soll der Ritt in den Harz fortgehen.

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