Das Gesicht der Heimat

Manfred Bornemann

Das Gesicht der Heimat Manfred BornemannFür den auswärts kommenden Besucher oder Wanderer mögen die Harzberge bei Ilfeld mit ihren roten Gesteinen und den Buchenwäldern als eine einheitliche Landschaft erscheinen. Wer aber hier im Südharz aufgewachsen ist, kennt die Unterschiede im Aufbau.Östlich vom Ilfelder Tal ist das aus Porphyrit aufgebaute Gelände mit seinem langgestreckten Rücken des Herzberges und Höhen um 500 m über NN massiv und erfährt durch das Hübbeltal und das Gottestal nur wenig Gliederung. Nach Osten geht der Bergrücken in den Poppenberg über mit der 600 m über NN sich erhebenden Fürst-Otto-Höhe. Ganz anders das Gesicht der Landschaft westlich vom Tal. Da ist das Gelände verworfen, von vielen Tälern und Erhebungen zerfurcht, mit Bergen, die kaum über 400 m über NN hinausgehen und nur vom Bergkegel des Hegersberges mit seinen 537 m über NN überragt werden. Hier findet man auch, was dem Massiv des Herzberges und Poppenberges fehlt: Scharen von Erzgängen und viele Spuren aus der Geschichte.

Da sind die beiden frühgeschichtlichen Harzeburgen, mittelalterliche Hüttenstätten und Hohlwege, durch die man mit Karren vor mehr als 500 Jahren von Nordhausen in den Harz fuhr. Da sind aber auch die vielen Reste eines über Jahrhunderte betriebenen Bergbaus in Form von Stollen, Halden und Pingen. Hier liegt versteckt im Tal das Braunsteinhaus, das früher Zechenhaus, Forsthaus und Gaststätte war und auch heute noch Gästen offen steht. Mit den Wäldern rechts und links vom Ilfelder Tal standen meine Vorfahren in enger Beziehung. Hier haben sie gearbeitet, die Namen der vielen Fluren, Berge, Bäche und Bäume waren ihnen vertraut. Die Landschaft war ihnen durch vielerlei Beziehungen zur Heimat geworden. Aus ihrem Erfahrungsschatz konnte ich manches übernehmen, mehr noch habe in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Gelände selbst erkundet. Fachbücher und Heimatbücher haben mir zudem die Erfahrungen und das Wissen der anderen vermittelt. Zur Wetterfahne, zum Gänseschnabel, zum Bielstein und Poppenbergturm bin ich selten aufgestiegen. Herzberg, Kaulberg und Poppenberg bedeuteten mir nicht viel. Aber auf der anderen Seite des Tales, wo der Hundsfelsen auf der Raudeshöhe Wache hält, „die“ Silberbach und „die“ Fischbach – in Ilfeld gebraucht man die Bachnamen mit dem weiblichen Artikel – im Tal blinken, wo Flurnamen wie Gärtchen, Roter Schoß, Tiefe Grube und Dustre Grube von geheimnisvoller Vergangenheit zeugen, da wurde ich heimisch. Immer neue Überraschungen begegneten hier dem Jugendlichen, der „Heimat entdecken wollte“. Die boten vor allem die aufgelassenen Bergwerke, deren Stollenmundlöcher einen Blick in das Innere der Berge freigaben, aber auch die alten Tagebaue.

Wo einst Bergleute arbeiteten, da waren jetzt in Schlupflöchern der tiefen Pingen Füchse, Eulen und Fledermäuse zu Hause. Und im Inneren der Stollen hörten wir, wenn wir von draußen lauschten, die Wassertropfen fallen. Eine geheimnisvolle Welt war das über und unter Tage!Mit einem Freund ging ich in den Jahren 1949 und 1950 daran, diese unterirdische Welt zu ergründen. Zunächst suchten wir auf den Halden und wussten bald, was dieser oder jener Grubenbau „geschüttet“ hatte. Was die Alten beim Klauben der Erze aussortiert und als wertlos erachtet hatten, das lag zwischen „tauben“ Gesteinsbrocken vor dem Mundloch, und mit etwas Glück konnte man dazwischen noch ein gut auskristallisiertes Stück Erz finden. Mit der Zeit lernten wir sicher Schwerspat, Quarz und Kalkspat zu unterscheiden. Aber Schwierigkeiten machte das Bestimmen von Schlacken aus den Rennfeuern der Waldschmieden und das Auseinanderhalten der Eisenerze und Manganerze, die in vielen Ausbildungsformen anzutreffen sind. Irgendwann erfuhren wir auch, dass die geförderten Manganerze als „Braunstein“ bezeichnet und gehandelt wurden und das Zechenhaus vom Braunstein seinen Namen erhielt.Ohne Fachbücher ging nun nichts mehr. Ich kaufte mir Lehrbücher der Mineralogie und Bergbaukunde, lernte die Mineralien nach der Härte, der Farbe, dem Strich und dem Habitus zu bestimmen. In den Büchern war zu lesen, dass Mangan, ein dem Eisen verwandtes Schwermetall, in vielen Ländern in Form von oxidischen Erzen vorkommt und gefördert wird, die am besten auskristallisierten Manganerze aber als Manganit, Braunit, Hausmannit und Pyrolusit bei Ilfeld und bei Ilmenau gefunden worden sind. Die schönsten Fundstücke waren die strahlen- und säulenförmig gewachsenen Aggregate aus schwarzen Manganitkristallen, die die Ilfelder Gruben in alle großen Sammlungen dieser Welt geliefert haben, als der Bergbau am Braunsteinhaus (bis 1890 betrieben) noch umging.

Ilfeld lieferte Schaustücke in alle Länder der Erde.Im Ersten Weltkrieg lebte der Bergbau auf Braunstein bei Ilfeld noch einmal auf, und es wurden noch erhebliche Mengen gefördert. Am 1. April 1921 wurde die Erzförderung in den Ilfelder Braunsteingruben endgültig eingestellt. Die seit 1922 aufgelassenen Baue haben mein Freund und ich, soweit unsere Freizeit das zuließ, um das Jahr 1950 „befahren“, wie der Bergmann sagt, doch in Wirklichkeit war das mehr ein neugieriges und vorsichtiges mit schlechtem Schuhwerk und Karbidlampen vorgenommenes Vortasten in den Grubenbauen. Wir hatten erkundet, dass die größten Tagebaue am Möncheberg angelegt waren, weil viele kleinste Erzadern, Trümer genannt, dort in Scharen den Porphyrit durchsetzten und das die weiter nördlich strechenden Roteisenerzgänge nur kleine Gruben aufwiesen, die ein „Befahren“ nicht zuließen. Unter den Harzeburgen über der großen Halde am Weg zum Braunsteinhaus fanden sich die größten und am ausgedehntesten Baue und die mächtigsten Manganerzgänge.Wir waren 17 Jahre alt, schlecht ausgerüstet, aber voller Tatendrang. Wenn uns verbrochene Strecken, Gesenke und Aufhauen auch hier und da den Weg versperrten, so bekamen wir doch immer wieder Einblicke und konnten Zeichnungen und Risse anfertigen. Versuche mit Rauchschwaden zeigten uns an einer Stelle, wie „das Wetter“ durch den Berg zog. Es gelang uns auch, durch einen Stollen „einzufahren“ und an einem benachbarten Ort wieder ans Tageslicht zu treten. Zuletzt haben wir den tiefen Stollen erkundet, der auf dem Niveau des vom Braunsteinhaus kommenden Baches ansetzt, drei erzführende Gänge durchörtert und mit einem abgesoffenen Gesenk im hinteren Gang endet. Sein Mundloch war so niedrig, dass wir tief gebückt durch abfließendes Wasser waten mussten. Da wir keine Gummistiefel hatten, sind wir dort barfuß vorgedrungen. Nach einigen Metern endete die Ausmauerung, und der Wasserlösungsstollen wurde zum gut zu befahrenden Querschlag mit Aufhauen in den Gangbereichen. Ein paar Jahre später – mein Freund und ich hatten Ilfeld 1952 verlassen – rückte das Bergbaugebiet in das Blickfeld staatlicher Stellen: die Staatliche Geologische Kommission Berlin führte zwischen Ilfeld und Sülzhayn 1954 Erkundungsarbeiten zur Gewinnung von Schwerspat durch. Im Jahre 1959 richteten sich die Erkundungsarbeiten der Kommission auf die Manganerzgänge. Die freigelegten Ausbisse der Gänge erwiesen sich aber als nicht bauwürdig. Nach Ende der Erkundungsarbeiten wurden fast alle Stollen des alten Bergbaus im Bereich der Mundlöcher zugeschüttet. Damit war auch der tiefe Wasserlösungsstollen nicht mehr befahrbar.Vor 1960 war das Tal an der Stelle, wo der Fahrweg zum Braunsteinhaus den Bach überbrückt, in heißen Sommern immer angenehm kühl, eine Naturerscheinung, an die sich ältere Besucher des Braunsteinhauses sicher noch heute erinnern. Ich fand erst viel später die Erklärung für dieses Phänomen. Der damals noch offene Wasserlösungsstollen führte neben dem Wasser auch kalte Luft aus dem Berg, die sich auf der Talsohle ausbreitete. Die nachgezogene Luft kühlte sich im Berg ständig ab und sorgte dafür, das es auf der Talsohle vor dem Mundloch kühl blieb.Als es 1989 mit dem DDR-Regime zu Ende ging und in Deutschland wieder ungehinderte Reisen möglich waren, kamen viele Besucher aus dem Westen, sogar aus Holland und Frankreich, im PKW ins Bergbaugebiet:

Mineraliensammler, die um Ilfeld als weltberühmten Fundort von Manganitkristallen wussten und nun suchten, was der alte Bergbau an guten Erzstufen in den Halden zurückgelassen hatte. Die Suche erreichte um 1993 ihren Höhepunkt und geht zurück, weil sich viele eingedeckt haben und erkennen mussten, dass die Mühen nicht immer den erhofften großen Fund brachten. Beträchtlich sind nur die Schäden in der Landschaft.Natürlich war ich in den letzten Jahren zwischen Fischbachtal und Steinmühlental öfter unterwegs als vor 1990. Reisefreiheit und mehr Freizeit machten das möglich. Andere Fragen als vor 45 Jahren sind in den Vordergrund getreten. Der Abstand zum jugendlichen Drang nach Erlebnis und Entdeckung wurde mit neuen Zielsetzungen deutlich. Heute interessieren mich Fundstücke aus Erzgängen, die über die Entstehung der Mineralgesellschaften etwas aussagen können. Bildungen von Manganerz auf roten Glasköpfen beweisen, dass der Eisenglanz früher entstanden ist. Schwerspat, der den Glasköpfen aufsitzt und deren kugelige Oberfläche angegriffen und mit Schuppen von Eisenrahm überzogen hat, aber auch in feine Risse der kugelig ausgebildeten Mineralaggregate eingedrungen ist, entstand nach Ausbildung des Eisenglanzes. Baryt (Schwerspat) ist das jüngste Mineral, das in die zum Teil schon mit Erz ausgefüllten Gesteinsspalten eingedrungen ist.Neben solchen aussagekräftigen Paragenesen gibt es Zufallsfunde anderer Art. Da stieß ich auf eine durch Unkenntnis beim Wegebau zerstörte mittelalterliche Hüttenstätte, die nach eingehender Untersuchung noch metallenes Eisen und Holzkohle freigab. Funde, die für spätere Analysen sichergestellt wurden!Bei Händlern kann man die schönsten Mineralien aus aller Welt kaufen. In Berlin (Naturkundemuseum), Hamburg (Mineralogisches Institut), Clausthal (Technische Universität), Goslar (Museum) und anderen Sammlungen dieser Welt sind prächtige Manganitkristalle zu bewundern, die der Ilfelder Bergbau geliefert hat. Dennoch hat man zum selbst gesammelten Stücken ein anderes Verhältnis, besonders zu Mineralien, die im Schoße der Heimat gewachsen sind. In meiner Sammlung befinden sich Manganitstufen, die ich auf den Halden der alten Bergwerke unter der Harzeburg aufgelesen habe und die zum Teil das auf ihnen gewachsene Moos noch tragen. Daneben sind in der Sammlung noch Glasköpfe und pflaumengroße Mandeln mit Achat, die ich vor langer Zeit vom Netzberg mit nach Hause brachte. Und es befindet sich eine faustgroße Druse in der Sammlung, die mein Großvater 1951 als Holzhauer bei der Arbeit am Pressborn gefunden hatte. So ist jedes Stück der Sammlung, die ich vor 50 Jahren in Ilfeld angelegt habe, mit Erinnerungen verbunden. Und die glitzernden Kristalle sagen mir: die Heimat hat kostbare Schätze zu vergeben. Man nur wissen, wo sie versteckt sind.

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